Upload: 09.09.2011

Torsten Lemmer: Christoph wirkt!

Als äußerst rechtslastiger Musikproduzent mit Christoph Schlingensief zusammenarbeiten?
Geht das?
Ja, es geht!

2001 suchte Christoph für seine Inszenierung des Hamlet am Schauspielhaus Zürich
ausstiegswillige Neo-Nazis. Der Schauspieler Peter Kern, den ich aus Düsseldorf
kannte und der im „Hamlet“-Ensemble mitspielte, lud mich nach Zürich ein, um mich
Christoph vorzustellen.
Christoph überzeugte mich und ein halbes Dutzend weiterer rechter Spießgesellen, an
dem Theaterprojekt mitzuwirken. Die Proben im Schauspielhaus und die Aktionen in
der Stadt waren enorm anstrengend. Am Anfang spielte der Zweifel auf beiden Seiten
immer mit. Christoph fragte sich: Sind die wirklich ausstiegswillig oder nur profilierungssüchtig? Und wir fragten uns: Meint Christoph es wirklich ernst oder führt er uns nur vor, um noch mehr Publicity zu erhalten?
Er meinte es ernst. Wir hingegen wollten eigentlich nur die linke Kulturschickeria provozieren.

Die Premiere rückte immer näher und die Nervosität stieg. Christophs unnachahmliche Art, sein steter Wunsch, ein Miteinander zu finden, die nächtlichen Diskussionen, die Proben bis zur Erschöpfung und nicht zuletzt sein unerschütterliches Vertrauen in meine Leute und mich waren der ausschlaggebende Punkt, dass die Situation nicht eskalierte, und führten bei uns zu dem immer stärker werdenden Wunsch, sich von der rechten Szene abzuwenden. Denn auf der einen Seite war da Christoph, eine starke Persönlichkeit, die Schwächen zeigte, und auf der anderen Seite waren da wir Rechten, also schwache Persönlichkeiten, die Stärke vorspielten.
Irgendwann war die Entscheidung zum endgültigen Ausstieg getroffen.
Christoph wirkt!

Er ganz persönlich hat mir den Weg zurück in die „Mitte des Lebens“ geebnet. Ohne ihn
wäre ich heute vielleicht immer noch derselbe Produzent dumpfer, tumber und vor allem fremdenfeindlicher Musik. Nur durch Christophs Anstoß bin ich heute mit einer arabischen Frau verheiratet und wir haben unseren kleinen Sohn.
Auch die anderen rechten Mitstreiter des Hamlet sind allesamt ausgestiegen. Als Beispiel
sei hier mein Freund Jan Zobel erwähnt, der inzwischen verheiratet ist, ein Kind hat und in guter Position für eine ausländische Firma arbeitet.

Ich bin Christoph dankbar, er war mein Stern in einer dunklen Zeit, der mir und meinen damaligen Mitstreitern den Weg in ein neues Leben wies.

Torsten Lemmer für Christoph Schlingensief. Auszug aus der Publikation zum Deutschen Pavillon 2011, Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-04343-3).

Upload: 02.09.2011

Schorsch „Tuffi“ Kamerun: Das nennt man wohl Freiheit

„Der Christoph ist am Bahnhof die deutschen Nazis abholen.“ Das sagte mir die Pressefrau des Schauspielhauses Zürich auf Nachfrage. Die Stadt war in Aufruhr. Klarer Fall. Typisch. Hm, aber ist das eigentlich politisch? Wer das sofort genauer wissen wollte, hatte den Moment nicht verstanden. Denn in der ordentlichen Überprüfung solcher Schlingensief-Aktionen lag die Verlangsamung seines Schaffens. Umgekehrt: Das war sein ständiger Vorsprung. Weil er Sezierung für sich kaum zuließ. Er blieb dadurch immer einen Schritt schneller vor denen, die meinten, endlich ganz direkt und nah dran zu sein. Pustekuchen. Weil exakt in diesen Momenten kam die Drehung. Intuitiv, wenig konzeptionell. Und der Irrglaube, mit „guter Vorbereitung“ auf seiner Höhe zu sein, war noch falscher. Denn der Ballast der herananalysierten Annäherung musste dann erst mal wieder weggearbeitet werden, wenn es ganz plötzlich um was ganz anderes ging. mehr…

Upload: 23.08.2011

Irm Hermann: Von der Berliner Republik bis Mea Culpa

1987 bin ich Christoph Schlingensief zum ersten Mal begegnet, als er mich für seinen Film Schafe in Wales engagierte. Damals war er noch ziemlich unbekannt und auf den ersten Blick wirkte er auf mich wie ein gut aussehender, bürgerlicher junger Mann mit Manieren, der Wunschtraum jeder Schwiegermutter. Hinter dieser bürgerlichen Fassade steckte allerdings ein großer Verführer, der mich mit seinem überwältigenden Charme zu den verrücktesten Selbstentäußerungen trieb, wie ich es seit meiner Zeit mit Rainer Werner Fassbinder nicht mehr erlebt hatte. Nach Fassbinder, mit dem ich einen prägenden Lebensabschnitt von 1966 bis zu seinem Tod im Juni 1981 zusammen war und dem ich meine ganz persönliche „Education sentimentale“ in künstlerischer wie persönlicher Hinsicht verdanke, zog mich die Arbeit mit Christoph in der Folge in einen ähnlich faszinierenden Sog aus Lust, Angst und Neugier. mehr…

Upload: 06.06.2011

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Bühneninstallation des Fluxus-Oratoriums von Christoph
Schlingensief im Deutschen Pavillon, Altaransicht mit Filmprojektion
Foto: (c) Roman Mensing, artdoc.de

Upload: 17.03.2011

Via Intolleranza II

Die vorerst letzte Vorstellung von „Via Intolleranza II“ in München fand schon ohne Christoph Schlingensief statt, der krankheitshalber vorzeitig abreisen musste, und sie hat gezeigt: Es geht – leider – sogar ohne ihn. 90 konzentrierte Minuten über die kolonialen Zustände in allen Köpfen, Schlingensief und sein Team ebenso eingeschlossen wie die netten Afrikaner, die in Europa auch nur einen Agenten und Karriere suchen. Die Folie dafür sind ein paar Erinnerungszitate an Nonos „Intolleranza“, engagierte Opernavantgarde aus fernen Zeiten, da man noch genau wusste, wo Moral und Fortschritt marschieren. Die Debatte ist so gordisch wie ergiebig, und nachdem die Dilemmata in einer dichten Performance mehrfach in ihrer Ausweglosigkeit aufgerichtet, gewendet und wieder kollabiert sind, ist ein afrikanisches Bayreuth fast schon die logische Konsequenz. Am Ende sitzt das Schlingensief-Double hinter einer Scheibe, von einer Filmknister-Projektion umrauscht, klopft vorsichtig ans Glas und stellt die gute alte Vergeblichkeitsfrage aller Kunst-Kasper: „Schon wieder so eine komische Kunstaktion. Ist da wer?“ Achtung: Dies ist keine Schlingensief-Hommage, sondern eine bemerkenswerte Inszenierung!
Franz Wille

Eine Produktion der Festspielhaus Afrika gGmbH in Koproduktion mit Kampnagel Hamburg, dem Kunstenfestivaldesarts Brüssel und der Bayerischen Staatsoper München. In Kooperation mit dem Burgtheater Wien, Impulstanz und den Wiener Festwochen Uraufführung 15 Mai 2010

Theatertreffen Berlin 2011