„Der Christoph ist am Bahnhof die deutschen Nazis abholen.“ Das sagte mir die Pressefrau des Schauspielhauses Zürich auf Nachfrage. Die Stadt war in Aufruhr. Klarer Fall. Typisch. Hm, aber ist das eigentlich politisch? Wer das sofort genauer wissen wollte, hatte den Moment nicht verstanden. Denn in der ordentlichen Überprüfung solcher Schlingensief-Aktionen lag die Verlangsamung seines Schaffens. Umgekehrt: Das war sein ständiger Vorsprung. Weil er Sezierung für sich kaum zuließ. Er blieb dadurch immer einen Schritt schneller vor denen, die meinten, endlich ganz direkt und nah dran zu sein. Pustekuchen. Weil exakt in diesen Momenten kam die Drehung. Intuitiv, wenig konzeptionell. Und der Irrglaube, mit „guter Vorbereitung“ auf seiner Höhe zu sein, war noch falscher. Denn der Ballast der herananalysierten Annäherung musste dann erst mal wieder weggearbeitet werden, wenn es ganz plötzlich um was ganz anderes ging.
Einmal saßen wir auf einer Probebühne und warteten auf die Ankunft des Starters. Alle
randvoll mit Angeboten. Dann kam Christoph rein und zeigte uns seinen ersten Film − den wir alle kannten −, um als Nächstes bekannt zu geben, er würde jetzt erst mal eine Woche nix machen wollen. Großalarm! So viele sehr gute Dramaturgen hat man noch nie (gleichzeitig) auf (völlig unnötige) Touren kommen sehen. Anstatt die entstandene Lücke in der Betriebsmühle als Chance zu betrachten, wurde augenblicklich damit begonnen das „Projekt zu retten“ und umso intensiver wurden weitere Materialmassen angekarrt, welche dann erst recht nicht zum Zuge kamen. Mir ist auch erst beim Mitmachen klar geworden, dass nur eine gewisse Distanz (in der Arbeit, nicht privat) überhaupt die Möglichkeit bedeutete, „dabei zu sein“. Denn volles Eintauchen hieß im Schlingensief-Kosmos schlichte Absorbiertheit, im Besonderen für die Sichtbaren im Licht neben ihm. Die anderen, loyalen Mit-Gestalter und -Streiter wurden speziell belohnt, im besten Fall durch klare Team-Familien-Zugehörigkeit. Jedenfalls, deshalb waren die ganzen Laien, Behinderten oder selbst grob narzisstisch Gestörten die einzig authentisch Möglichen im Schauprozess Schlingensief. Weil sie parallel liefen und dadurch wundersam frei blieben. Und die Berichteschreiber hatten auch nur eine interessante Draufsicht, wenn sie das Phänomen beschrieben und nicht die Qualität des
einzelnen Vordergrundes etwa einer gelungenen / nicht gelungenen Aufführung oder eines Ausstellungsraums mit Drehbühnenerinnerung (Animatograph). Sein Theater war permanent. Und immer gewollt allumfassend konsequent inkonsequent. Und eben: Christoph Schlingensief war kein politischer Künstler! Das greift zu kurz. Er spielte in vielen gleichzeitigen Räumen. Die waren Gesellschaft, Scheiße-Bauen, Kinderträume, Anti-Ideale, Kinderflüche, ultradirekte Philosophie, Selbst-Wagnis-im-Nichtaushalten, Kunstliebe, Befindlichkeit und „das Leben“ genauso wie „das Nichtleben“. Und in seiner Superbeweglichkeit war er der Superschnellste, was ihn zum konstant interessanten MEDIEN KÜNSTLER machte.
„Ich habe euch bewiesen, dass man das Stück nicht spielen kann“, sagte er nach einer Generalprobe. Großala…!! Da war schon wieder „das Projekt in Gefahr“. Ich sagte ihm, er
müsse ja nicht mitmachen, da wären ja genug andere dabei. Wir haben das am nächsten
Tag dann doch gemacht. Vor allem er selbst natürlich. Er brauchte nur ganz kurz die mögliche Ausgangstür benannt haben, um umso heftiger voll in den Eingang hineinzutreten. „Vielleicht zeige ich diesmal gar nichts.“ Und das ist sein größter Verdienst: zu beweisen, dass es möglich ist, Kunst abzusagen. Die berühmte „Scheiter-Chance“. Ihm war der „wirklich“ begonnene Gedanke viel wichtiger als die ordentliche Einhaltung dessen. Und das nennt man dann Freiheit. Doch weil Freiheit den Menschen trotzdem enden lässt, hat dem Selbstaushalter Christoph Schlingensief diese Erkenntnis immer nur sehr kurz was genützt. Also dranbleiben. Stillstand ist Abstand. Dann lieber das nächste fette Teil in den gierigen Schlund der freudig bebenden Projekte-Bereitsteller pfeffern. Bewegung im Kochtopf entsteht immer noch durch Einheizen. Und ich bin so dankbar, das gesehen zu haben. Wie frisch gewagt wurde. Wie neu ausprobiert wurde. Mit direktestem Einsatz. Es war in der jüngeren Vergangenheit der letzte Höhepunkt von einem riesigen Bänderwerk, wo die einzelnen Fäden aus den größten Probiermomenten abgeleitet waren. Und allen wurde das total offen vorgelegt, jeder durfte mit reinschauen. Im Tagtraum. Das fehlt ungeheuerlich. Die Lücke zwischen unseren realen Tagen zu Christophs fantastischen Deutungen lässt sich für ganz lange nicht schließen. Und in dieser Ahnung hat meine Tante Anke gemeinsam mit unzählig Gerührten einen intimen Verlust verspürt, als Christoph starb, obwohl sie nur aus sicherer Entfernung sein Buch gelesen hatte.
Scheiß Stille.
Schorsch Kamerun für Christoph Schlingensief. Auszug aus der Publikation zum Deutschen Pavillon 2011, Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-04343-3).