1987 bin ich Christoph Schlingensief zum ersten Mal begegnet, als er mich für seinen Film Schafe in Wales engagierte. Damals war er noch ziemlich unbekannt und auf den ersten Blick wirkte er auf mich wie ein gut aussehender, bürgerlicher junger Mann mit Manieren, der Wunschtraum jeder Schwiegermutter. Hinter dieser bürgerlichen Fassade steckte allerdings ein großer Verführer, der mich mit seinem überwältigenden Charme zu den verrücktesten Selbstentäußerungen trieb, wie ich es seit meiner Zeit mit Rainer Werner Fassbinder nicht mehr erlebt hatte. Nach Fassbinder, mit dem ich einen prägenden Lebensabschnitt von 1966 bis zu seinem Tod im Juni 1981 zusammen war und dem ich meine ganz persönliche „Education sentimentale“ in künstlerischer wie persönlicher Hinsicht verdanke, zog mich die Arbeit mit Christoph in der Folge in einen ähnlich faszinierenden Sog aus Lust, Angst und Neugier. Bei seinen Projekten mitzumachen, wozu er mich oft mit allem Charme überreden musste, hieß jedes Mal, eine Reise ins Unbekannte anzutreten, ins Chaos zu springen und zu hoffen, irgendwo unbeschadet herauszukommen. Es gab kein Buch, aber jede Menge anregender Texte, die ausprobiert und wieder verworfen wurden, Filmschnipsel, Gesprächsrunden, aus denen sich Szenen und Videoprojektionen zu einer multimedialen Collage entwickelten, die sich nach und nach immer mehr verdichtete.
In Berliner Republik an der Berliner Volksbühne bin ich das erste Mal in einem seiner Theaterstücke aufgetreten. Er hat immer selber mitgespielt, war Motor und Bindeglied in dem lockeren szenischen Verbund. Mit ihm als Animator konnte so ein Abend eigentlich nie schiefgehen. Wiederholungen langweilten ihn und so kam er auf die Idee, die Berliner Republik rückwärts zu spielen. Fünf Minuten vor der Vorstellung warf er die ganze Szenenfolge durcheinander und jeder Schauspieler musste selbst sehen, wie er die Übergänge kreativ zustande brachte. Es gab Löcher von quälender Peinlichkeit, in der das Publikum mitlitt, aber zugleich wunderbare Momente realistischer Spannung, wie sie sonst auf keiner Bühne zu erleben sind. Jede Arbeit mit ihm war immer höchste Herausforderung und man stand nie auf dem sicheren Boden einer fertigen Inszenierung. Ständig fielen ihm während der Vorstellung neue Sachen ein, auf die man reagieren musste, und wehe, man hat dabei gelacht, das mochte er gar nicht.
Er war Berserker und Magier zugleich. Großartig sein überraschender Auftritt in Atta Atta, wo ich gerade mit einer Blume in der Hand monologisiere und er plötzlich, mit weißem Puder bestäubt und einem riesigen Hirschgeweih auf dem Kopf, in spastischen Bewegungen auf mich zukommt, mich in eine Badewanne auf der Bühne wirft und mich „vergewaltigt“. Wenn das gemeinsame „Feeling“ auf der Bühne zwischen uns stimmte, war es wunderbar. Es spielte sich ja vieles auf der Ebene des Unbewussten ab – das war unaussprechlich. Diese Mischung von katholischem Apothekersohn und seinen „Abgründen“ war für mich oft erschreckend. Ich habe mich manchmal gefürchtet. Er hat jede Schwäche, ja Unbewusstheit, bei der Arbeit gespürt und benutzt. „Zeige deine Wunde“ war sein von Beuys übernommenes Credo, mit dem er nach seiner Krebsdiagnose in einer Arbeitswut und Lebendigkeit wie nie zuvor auch sich selbst infrage stellte und seine innere Befindlichkeit in Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir und Mea Culpa zum Thema machte. Lange Zeit, in der ich mit ihm zusammenarbeitete und mein Blick oft von den anstrengenden Begleiterscheinungen seiner Produktionen verstellt war, kam er mir gar nicht so groß vor, jetzt, wo er nicht mehr ist, sehe ich die Lücke und merke, dass er ein Riese war. Das würde ich ihm gerne noch sagen.
Irm Hermann für Christoph Schlingensief. Auszug aus der Publikation zum Deutschen Pavillon 2011, Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-04343-3).