»Die große Kraft aber liegt in der Unklarheit, in der Gewissheit, dass es keine Lösung gibt, sondern Transformationen und Formveränderungen … das ist für mich nicht fatalistisch, das ist ein ganz großes Ja zum leben.« (Christoph Schlingensief)
Schlingensief in ein paar Sätze zu fassen, ihn auf einer Seite zu beschreiben, scheint mir ein Ding der Unmöglichkeit. Die Faszination seiner Arbeit und seiner Person lag darin, dass er immer emotional gehandelt hat, dabei aber stets glasklar war im Einsatz und Umgang mit der Medialität und den Kommunikationsmöglichkeiten unserer Zeit. Er spekulierte nicht, er widerlegte jede Erwartung, er legte sich an, er distanzierte sich nicht mit »Coolness« oder Skepsis. Er sprach von Intransparenz und meinte Authentizität. Seine Kunst kreierte damit immer mehr Schnittstellen nach außen, was zwangsläufig die Menschen zur Interaktion einlud.
Die Kunst, die bereits seit dem Beginn des letzten Jahrhunderts mehr und mehr an ihren eigenen Grenzen und an der Auflösung der einzelnen Disziplinen arbeitet, wurde bei Schlingensief zum Instrument, das nicht mehr gedeutet werden musste, sondern sich selbst widerlegen konnte. Schlingensief löste damit einen Wendepunkt aus, an dem sich Kunst neu definieren wird müssen.
Sein Wiener Container-Projekt Ausländer raus! legte Zeugnis ab von dieser Neudefinition von Kunst, wo Kunst im klassischen Sinn sich nicht mehr wiederfand, weil sie sich plötzlich unter anderem mit Formen von Realityshows konfrontiert sah. Schlingensief gelang damit im Kunstkontext eine aggressive Einmischung in politische Themen, indem er durch Form, Stil und Inhalt antithetisch vorging: »[Jörg] Haider zu widerlegen geht nicht. Haider durchspielen geht.« So waren denn auch die Beteiligten seiner Aufführungen nicht immer Schauspieler, sondern auch Betroffene: Ausländer, Ex-Neonazis, Behinderte und so weiter. Er spielte also durch, wie im Labor, was es bedeutet, jemanden zu stigmatisieren und ihn am Ende des Tages des Landes zu verweisen. Ähnlich war sein Projekt der Parteigründung Chance 2000 zu verstehen oder die Church of Fear.
Kunst wurde zum Testlabor. Und zum Theater sagte er konsequenterweise: Das ist Politik.
Schlingensief verwahrte sich dagegen, Kunst unabhängig vom Leben zu sehen. Die Trennung Kunst − Leben gab es bei ihm nicht. In der Aufhebung der Grenzen zwischen den Kunst-Disziplinen und der Lebensgestaltung und in seiner begnadet-unverschämten Handhabung aller Mittel, die ihm die moderne Medienwelt zur Verfügung stellte, wurde Kunst bei ihm zum Instrument, wenn nicht zur Waffe. Sie ermöglichte ihm, konkret Stellung zu beziehen und sich einzumischen, auf tagesaktuelle Themen einzugehen: also gestalterisch in den gesellschaftlichen Kontext hineinzuwirken, wie das zuletzt dann auch in dem Projekt »Operndorf Remdoogo« seine konkreteste Ausformung fand.
Diesem Impetus lag ein Begriff von Freiheit zugrunde, den er einforderte und den er für sich beanspruchte. Deswegen erlaubte er sich auch Übergriffe, die scheinbar Regelverletzungen darstellten, inhaltlich wie stilistisch, und schuf durch sie hindurch nicht Wirklichkeit, wie Theater das oft von sich behauptet, sondern griff diese an und machte Kunst damit zur Wirklichkeit und umgekehrt.
Ich verstehe Schlingensief als einen, der um die Welt wusste, ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein hatte und im buchstäblichen Sinne immer auf Sendung war. Es schien, als ob eine Verpflichtung, eine Verantwortung ihn antrieb, die jeden in seinen Bann zog.
Schlingensiefs Werk hinterlässt tiefe Spuren.
Als Inszenierungen der Jetztzeit, zwar deutsch geprägt, aber in ihrem hochmoralischen Anliegen doch menschlich allgemeingültig, stellen seine Arbeiten eine neue Ikonografie auf, die Kunst mit dem Alltag engstens verknüpft.
Es entstanden dadurch neue Zugriffe, neue Blicke auf Realität, neue Deutungen von Kunst. Nichts blieb unberührt in seiner Arbeit: Da trifft der Katholizismus auf die Konsumwelt, da stoßen verschiedene Kulturen aufeinander, da trifft Moral auf Unmoral, da verkehren sich die Systeme, da schlägt er die Unterhaltungsindustrie mit ihren eigenen Mitteln und verdonnert das herkömmliche Stadttheater zur Unterhaltungsfabrik. Da werden alle Kunstmittel miteinander verwoben, benutzt. Der Film zum Beispiel, sein ursächlichstes künstlerisches Mittel, ein technisches Mittel, das der Bewegung verpflichtet ist, Schnitte zulässt, Einschnitte, Verdrehungen, falsche Perspektiven etc., bestimmte auch ästhetisch seine weiteren Arbeiten, sei es auf der Bühne, im Kunstraum, im öffentlichen Raum, im Buch.
Seine Kunst ist widersprüchlich, ideologielos, offen. Er scheute vor nichts zurück, holte sich, was er brauchte, von Goethe bis Immendorff, von Nietzsche bis Warhol, von Schönberg bis Jelinek, und würfelte es neu zusammen – erstaunliche Drehbücher, Texte, Aufführungen, Installationen sind dadurch entstanden. Er war ein kongenialer Plagiator, ein Kunst-DJ und -VJ zugleich, der sich dazu ganz öffentlich bekannte. Wahrheit in ihrer unglaublichen Komplexität erstand und man entkam dem berührenden Staunen nicht. Kunst, meinte er, »wird dann interessant, wenn wir vor etwas stehen, was wir nicht restlos erklären können«.
Christoph Schlingensiefs Gang nach Afrika war demnach nur folgerichtig. Dort konnte er etwas lostreten, etwas in Bewegung setzen, aber seine Grenzen waren klar für ihn erkennbar, allein schon die Sprache, die andere Kultur waren Barrieren des Verständnisses. Plötzlich war nur mehr Vertrauen möglich. Plötzlich war nur das schöne Staunen möglich. Er hat etwas geschaffen und dadurch Bewegung erzeugt. Und damit auf wunderbare Weise gezeigt, dass mit künstlerischem Denken und Handeln Berge zu versetzen sind und Erkenntnisse stattfinden, die dem eigenen wie dem anderen Ich eine Souveränität zutrauen, die sich wehrt, sich erheben kann, selbst sein kann. Am deutlichsten war das in seinem Stück Mea Culpa zu erkennen, wo er mit großer Heiterkeit dem Tod den Finger zeigt und sich selbst als Schöpfer seines Lebens deklariert.
Schlingensief bewirkte, dass an der eigenen Wahrnehmung gerüttelt und gezerrt wurde, bis man entnervt, entzückt, verrückt, staunend zurückblieb. Gemeinsam mit dem Künstler, der oft mittendrin als Moderator, Spiritus Rector, Schauspieler, Verführer eine scheinbar außer Kontrolle geratene Wirklichkeit ins Visier nahm.
Ein liebender Moralist, erkrankt am deutschen Wesen, dessen Vergangenheit und dessen ungewisser Zukunft (er sprach einmal vom fauligen Geruch in Deutschland), aber auch an der Unklarheit von Welt insgesamt, die er aber auch nicht missen konnte, nicht missen wollte – einfach liebte.
Er bekomme »Darmverschlingungen«, hat er mir einmal per SMS zugerufen. Jede Ungerechtigkeit, jeder Unverstand hat ihn persönlich getroffen, an seinem Körper gezehrt. Er war wie ein Seismograf, der alles aufnahm und sich nur dank seiner Kunst schützen konnte, ein begnadeter Chronist unserer Zeit, der mit den Mitteln der Kunst dem Leben großartige Freiheiten (zurück)gab.
Elisabeth Schweeger für Christoph Schlingensief. Vorab-Veröffentlichung aus der Publikation zum Deutschen Pavillon 2011 © Deutscher Pavillon 2011, Kiepenheuer & Witsch