Jüdische Gräber im 12. Jahrhundert tragen das Emblem eines Hasen. Das Symbol auf den Steinen fiel Oberrottenführer Hartmut Mielke auf, als seine Kolonne im Jahr 1943 Jüdische Friedhöfe in Mitteldeutschland applanierte, damit an diesen Orten Wasserbecken für Löschfahrzeuge eingerichtet werden konnten. Das Motiv wiederholt sich auf Grabsteinen des 17. Jahrhunderts: lang hingestreckte, „schlafende“ oder „erschlagene“ Hasen.
Dies stand im Gegensatz, das wußte der Oberrottenführer, der im Privatberuf Heimatkundler war, zu heidnischen Hasen-Darstellungen im keltischen Bereich südlich der Rhön. Hier sind Hasen auf Opfersteinen dokumentiert, nicht auf Gräbern.
Schon der Cousin des Turnvaters Jahn, Alfred-Erwin Jahn, beschrieb in der Zeitschrift für deutsche Vorzeitforschung, Band 14, S. 143 ff. aus dem Jahre 1809, den Zusammenprall des Fruchtbarkeitssymbols „Hase“ (als Frühlingsmythos der Göttin Ostara) mit der „Theatralik von Golgatha“: dem „trauervollen Abschied des Gottesohnes auf lange Zeit“.
Dieser Textstelle entnahm Richard Wagner die Anregung für den Karfreitags-Zauber, den er in den dritten Aufzug seines Parsifals einfügte. Der Schmerz des Kreuzes und die Fröhlichkeit der „frühlingshaft lachenden Natur“ schienen ihm ein geeigneter Gegensatz, um die „Strapazierung des Mitgefühls“ auszudrücken.
Die von Wagner in dieser Perspektive entworfene Szene griff nun Christoph Schlingensief in seiner Inszenierung des Parsifal in Bayreuth auf. Lange hatte er in der Partitur und in den Texten des Stücks nach etwas gesucht, das innerlich berührte.
In einem Keller der Humboldt-Universität in Berlin wurde ein erlegter Hase, erworben in einem Fachgeschäft für Wildfleisch, für mehrere Wochen dem Verwesungsprozeß überantwortet. Im Aufrag von Kairos-Film stellte Walter Lenertz eine 35-mm-Arriflex-Kamera mit Zeitraffermotor auf. Das Licht wurde eingerichtet. Es war dafür gesorgt, daß sich Fliegen in dem Gelaß befanden. In Zeitsprüngen filmte die Kamera einige Wochen lang den Zerfall.
Es bestätigte sich eine Erkenntnis aus Walter Benjamins Arbeit Ursprung des deutschen Trauerspiels. Benjamin diskutiert dort eine für das Alltagsleben schwer erträgliche Metapher: das Aufbrechen des behaarten Tierleibs durch innerlich wirkende lebendige, verflüssigte Kräfte, sogenannte Würmer. Das Skelett tritt hervor. Von solch „absterbender Natur“, in der sich schon „eilfertig neues Leben bildet“, berichtete die Zeitraffer-Kamera. Es erwies sich, daß Benjamin recht hatte, als er die „sich bahnbrechende Intensität von Maden unterschiedlicher Größe in der Ruinenlandschaft des gewesenen Hasen“ bestürzend nannte.
Der Anblick des sich zersetzenden Hasen in Großprojektion während des „Karfreitags-Zaubers“ machte dem Festspielpublikum in Bayreuth zu schaffen. Man sah ja keine „Wiederauferstehung“ eines Hasen, sondern die „Weiterführung des Lebens in den Formen des Zerfalls“: Andere leben von dem, was starb. Am Ende war der Hase zerflossen, Würmer wimmelten, auch sie „todgeweiht“, weil nach Aufzehrung des Hasen der Keller keine weitere Nahrung bieten würde. Das war als MITTEL DER UNTERHALTUNG FÜR EINEN ABEND SCHWER ZU ERTRAGEN, als Beitrag zur Wahrheitsfindung dagegen treffend.
Auf der internationalen Pressekonferenz nach der Generalprobe wehrte sich Schlingensief gegen den Vorwurf, sein Konzept sei „pessimistisch“. Er könne die Lebensgier der von der Kamera abgebildeten Maden weder pessimistisch noch optimistisch finden. Es sei vielmehr positiv, daß die Kamera so etwas aufzunehmen vermöge und so das Geschehen im Kopf zukünftiger Beobachter immer wiederholt werden könne. Was wenn nicht so etwas sei „Wiedergeburt“! „Überwindung des Überwinders“. Der Ernst der Musik beweise das; es könne ohne Erschrecken nicht vorgeführt werden. Wagners Töne, von Pierre Boulez gezähmt, vermochten den Schock nicht zu mildern.
Auszug aus der Publikation zum Deutschen Pavillon 2011, Kiepenheuer & Witsch. Erstveröffentlicht in: Alexander Kluge: Das Bohren harter Bretter. 133 politische Geschichten © Suhrkamp Verlag Berlin 2011