1984 hatte ich es leid, beim Schreiben über Filme den Markttermin zu bedienen. Kein Starttermin? Dann kein Text! Da kam es mir zupass, dass in Hamburg sich das Abaton-Kino die Reihe Unbekannte Filme von unbekannten jungen deutschen Regisseuren ausgedacht hatte. Ich ging hin, neugierig auf einen Film, irgendeinen, und ohne den Zwang, einen Text abliefern zu müssen. „Tunguska – Die Kisten sind da“ von einem Menschen, dessen Namen ohne anzustoßen auszusprechen, mir mit der Zeit gelingen sollte. Schlingensief. Ich war vom Film schwer beeindruckt. Die expressionistische Implikation der Filmgeschichte schien auf. Ausgiebige Zitate von Avantgarde-Techniken (Oskar Fischinger, 1934) fanden daneben wie selbverständlich ihren Platz, alles vorgewiesen mit spitzbübischem Gestus. Junge Leute hinter und vor der Kamera. Unter ihnen mein Altersgenosse Alfred Edel. Der Film spielte mit den Zuschauern – und mit dem Kinoangestellten, der den Projektor bediente. Der Streifen brannte durch, ein Loch fraß sich von der Mitte aus kreisförmig nach außen. So schien es. Aber wir waren alle tapfer. Die Vorstellung wurde nicht abgebrochen, und wir kamen schließlich zur Diskussion.
Schlingensief, 24, lächelte ein wenig aufgeregt. Er erzählte, dass in anderen Kinos tatsächlich die Projektion beendet und der Feuerlöscher gesucht wurde. Keiner der Zuschauer lachte. Die Stimmung war die einer Lehrerkonferenz. Dabei verbreitete Schlingensief eine seinem Alter angemessene, das heißt übergroße Dosis Charme. „Aber das ist doch alles pubertär!“, wurde gemäkelt. Ich war empört: „Wieso ist pubertär was Negatives? Rimbaud hat „Das trunkene Schiff“ während seiner Pubertät geschrieben! Als die vorbei war, kam nichts Schlechtes! Es kam gar nix mehr!“ – Ich rief den Herrn Schütte von der Frankfurter Rundschau an. „Ich hab einen tollen, noch unbekannten Film gesehen!“ – Coole Frage: „Wieviel Spalten?“ – „Vier!“ – „Foto?“ – „Ja!“ – Und so erschien die erste Schlingensief-Kritik. Unter demTitel: „Schlingensief, der Rimbaud des neuen deutschen Films“.
Schlingensief rief mich an und fragte, ob ich bei seinem nächsten Film mitmachen wolle. Ich wollte. Schon wenige Monate später begann der Dreh von „Menu total“. Ich und Brigitte Kausch, meine Frau, wir wurden Mitglieder der Schlingensief-Familie. Zwei Jahrzehnte lang. Wir waren eine Generation älter als er. „Liebe Eltern“, adressierte er seine mails und sms’, „Euer Sohn Christoph“. Wir hatten unsere Rollen. Das war eine zwiespältige Erfahrung, wenn auch eine bereichernde. Wir entdeckten gleich in den ersten Filmen in uns Eigenschaften, die das Gegenteil von dem waren, wie wir uns selbst verstanden. Ich muss deutlicher werden. Ich hatte schließlich einen Beruf. Staatsanwalt In Hamburg. Und musste mir für die Drehtage im Ruhrgebiet Zeit rausquetschen. Beim Verfolgen von Naziverbrechen. Und jetzt kommt’s. Als Schlingensief-Vater spielte ich schon in „Menu total“ und dann immer weiter den Nazi-Vater, in Uniform, Nazilieder grölend. Als Neo-Nazi-Vater agitierte ich schließlich in „Terror 2000“ in einer SA-Uniform mit Hakenkreuz. – Warum tat ich das? Warum ließ Brigitte Sachen raus, die ich nie vermutet hätte? Antwort: wir waren in der Schlingensief-Familie unter Einfluss. Und ließen den geschehen. Einen Therapeuten haben wir bis heute nicht aufgesucht. Und das ist auch gut so.
Zurück zum Faszinosum Schlingensief. 1984 hatte er ja schon 16 Jahre Filme gedreht. Schülerfilme, dann Etüden aus der Zeit, in der er sein Erstsemester Philosophiestudium abbrach, um sich auf dem Gebiet des Films zu professionalisieren. Er erzählte mir von dieser Zeit beim Dreh von „Menu total“, und ich, biederer Beamter, war hin und weg zu hören, wie er mit dem Studium anzufangen versuchte, scheiterte und dann erst die große Chance sah und ergriff.
Der Beginn war Venedig. Anfang der 80er Jahre. Die Festspiele. Schlingensief fuhr hin. Nicht wegen der Filme, sondern um Wim Wenders zu treffen. Die beiden hatten sich bis dahin nicht gekannt. Wenders sollte, so sah Schlingensief die Chance, für den unbekannten Zwanzigjährigen eine Empfehlung für die Hochschule für Fernsehen und Film in München schreiben. Er tat es. Und Venedig war wider Erwarten nicht die Chance. Schlingensiefs Bewerbung wurde hohnlachend abgewiesen. Also kein Studium? Was macht einer wie Schlingensief? Er beschließt, das Studium zu überspringen und gleich Prof zu werden oder doch Assistent an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, Filmklasse. Und so geschah es. Mit den Ressourcen der Hochschule und mit den Studenten drehte er „Tunguska – Die Kisten sind da“, – den Film, der mich erleuchtete. Und dem Wim Wenders wurde auf der Berlinale 1985 schon nach zehn Minuten „Menu total“ schlecht. Er lief als erster aus dem Delphi-Kino raus.
Rückblickend also war Venedig nicht die Chance für den studienplangerechten Wenders-Weg gewesen, wohl aber grade deswegen die Super-Chance für den alle Hürden und Konventionen überspringenden Genie-Weg Schlingensiefs. Dank also an den Lido!
Allerdings zeigte sich, dass nicht alle vom talentierten Christoph Schlingensief begeistert waren. Provokateur! Im Fernsehen liefen Anfang der 90er Jahre inzwischen legendäre Spots, moderiert von Friedrich Küppersbusch. „ZAK“, jeweils 2, 3 Minuten. Zu sehen regional in Nord-Rhein-Westfalen, also auch in Oberhausen, wo Schlingensiefs Vater seine Apotheke hatte. Und die Nachbarn! Brutalpersiflagen von Schlingensief. „Der Stasihund“, „Pornos für Russland“, Brigitte brillierte in den Filmen. Wir kamen in Oberhausen zu einem Elternabend zusammen. Schlingensiefs Eltern klagten den Wahleltern ihr Leid. „Ist es nicht furchtbar, was er macht? Und die Nachbarn sagen das auch!“ Sie behandelten uns von gleich zu gleich, altersgerecht. Wir teilten ihre Sorgen, hatten wir doch zwei Kinder und damit Elternabendroutine. Aber waren wir als Freunde von Schlingensiefs Eltern jetzt nicht auf einem anderen Level? Kein Problem! Ich hatte schon 1983 die endlich erschienene deutsche Übersetzung von Foucault gelesen. Identitätsvielheit, multiplicité d’identité, war pure Bereicherung, keineswegs Psychosplitting! Also war es mir ein Vergnügen, der Einladung des überregionalen Fernsehsenders rtl zu folgen und mit Schlingensief zur Sendung „Der heiße Stuhl“ zu fahren. 1990 oder 91 muss es gewesen sein. Auf dem besagten Stuhl saß die neue Ministerin für Jugend, Familie und so weiter, Kohls Mädchen, Angela Merkel. Wir hatten die Aufgabe, sie zu attackieren. „Wie begegnen Sie in den neu gewonnenen Beitrittsländern den rechtsextremen Skinheads und deren Gewalt“?
- „Ich bin zu ihnen hingefahren, und wir haben geredet“. – „Haben Sie auch mit Betroffenen geredet?“ – „Nein, aber das kann noch geschehen.“ – Das Publikum johlte. Nach der Sendung kam die Merkel auf uns zu, lächelte und wollte wissen: „Seid ihr eine Blase?“ – Wir widersprachen nicht, obwohl ich immer noch nicht weiß, was für eine Art Blase sie gemeint hat. Es muss nichts Schlimmes gewesen sein, denn: „Ihr müsst mich unbedingt im Ministerium besuchen, ja?“ – Sie sah Schlingensief in die Augen. Wie das? Wir hatten sie doch provoziert! Was war passiert? Es muss so was wie Schlingensiefs Charisma gewesen sein.
Charisma erklärt sich nicht. Aber es bringt Leute dazu, was zu tun, was sie wohlüberlegt nicht tun würden, weil sie nicht darauf gekommen wären. Das macht verdächtig und kreativ zugleich. Wer als verdächtig, zum Beispiel als Provokateur, gehandelt wird, muss sich was einfallen lassen, um respektiert zu werden, nicht nur wahrgenommen, sondern geschätzt eventuell. Der verdächtige Schlingensief wusste, was zu tun ist. Wir trafen uns im Flughafen Frankfurt am Main, um in New York performativ Deutschland und seine böse Geschichte im Hudson zu versenken. Schlingensief erschien mit Schläfchenlocken, ultrakonservativem Hut und im Kaftan. In der Kabine verlangte er koscheres Essen. Er bekam es. In New York empfing uns der Pressechef des Goethe-Instituts oder war es der des Generalkonsulats. Jedenfalls erbleichte er und prophezeite, dass Schlingensief in diesem Aufzug heute oder morgen erschossen werde. Wir drei fuhren zum Times Square und parkten das Auto unter einem Verbotsschild. Ich hatte die Aufgabe, dort zu bleiben und aufzupassen. Walter Lenertz schulterte die Kamera, und Schlingensief ging in der Mitte zwischen den Fahrbahnen den Broadway hoch. Auf Höhe der ersten Querstraße kam ihm ein gelbes Taxi entgegen und bremste. Ein Arm schoss heraus. Knallte es? Nein, mit gespreizten Fingern kam ein Victory-Zeichen. Schlingensief hielt sein Demoschild hoch: Don’t Buy German Goods. Deutsche kauft nicht bei Juden. Wer nicht Pressechef ist, versteht das in Manhattan.
Schlingensiefs Auftritte funktionierten stets, denke ich mir, weil er stets bei sich war. Genaugenommen trat er auch gar nicht auf, sondern war einfach da. Und da ich oft dabei war, hab ich gelernt, was er von mir wollte. „Sei du selbst“, sagte er in den großen 90er Jahren der Volksbühne. Und zu den Vollprofischauspielern nicht minder häufig: „Nicht schauspielern!“, und so geschah es, dass wir, die Eltern, zur vorletzten Probenwoche des Jelinek-Stückes „Bambiland” ins Burgtheater Wien gerufen wurden, um den Schauspielern das Schauspielern abzugewöhnen., Brigitte konnte das hervorragend, ich war unsicher, ob das die Gruppenbildung förderte. – Mit einigen Schauspielern sind wir heute noch befreundet. Ja, das war Schlingensiefs Regel 1: Sei du selbst. Als Sophie Rois auf der Bühne ins Schiller-Deklamieren kam, hatte er in der laufenden Aufführung einen der behinderten Mitdarsteller zu ihr hingeschickt, um reinzureden. Sophie brach ab, wartete, sprach: „Schlingensief, wenn du mich brauchst, ich bin in der Kantine“ und ab durch die Mitte. Der Abgang war original Rois, sie selbst.
Regel 2: Machst du einen Fehler, thematisiere ihn. Nie drüber weggehen, etwa über Versprecher. Drauf zugehen, mitten rein! War es ein Fehler, die Containeraktion in Wien zu machen? Ausländer raus? Wie soll ich das machen, „wie Haider sprechen“? – „Sprich, wie du denkst, dass Haider sprichst!“ – Das war 2 Tage, bevor ich oben vor der Oper auf dem Container stand und mich bei den Wienerinnen und Wienern dafür bedankte, dass sie ihre Holzschiffmarine 1861 in die Nordsee vor die Elbmündung geschickt hatten, um die Hamburger Kaufleute von der französischen Elbblockade zu befreien. Sie wurden befreit. Und dann noch: um jetzt die Österreichblockade zu verhindern, ist Hamburgs CDU-Vorsitzender heute nach Brüssel gefahren. Er grüßt euch alle! – Großer Beifall. Von der falschen Seite. Aber ich war mittendrin. Im Haider-Fehler. Und konnte operieren.
Trainiert hatte ich Regeln 1 und 2 zuvor. Im Zirkus. Einem echten, integriert in eine Schlingensief-Aufführung im Prater, diesmal Berlin-Mitte. Die Aufführung lief. „Steig auf das Pferd“. „Halt dich am Reck fest“. „Geh in den Kniehang“. Ich hing, hochgezogen in der Kuppel. Mit Mikrofon. „Halt eine Rede“. Ich hielt sie, unvorbereitet, aber mit genug Adrenalin im Blut. – Ich weiß, heute ist es angesagt, Schauspielern vom Aufsagen der Texte abzuhalten, indem vor den Proben Fußball gespielt wird oder während der Proben Federball. Bloß: bei Schlingensief hatte ich keinen Text. Was ich sagte, sagte ich aus dem Stand, und das war meine Sache.
Dietrich Kuhlbrodt
Dietrich Kuhlbrodt für Christoph Schlingensief. Vorab-Veröffentlichung aus der Publikation zum Deutschen Pavillon 2011 © Deutscher Pavillon 2011