Upload: 27.04.2011

Elisabeth Schweeger: Ein persönlicher Blick auf Christoph Schlingensief

»Die große Kraft aber liegt in der Unklarheit, in der Gewissheit, dass es keine Lösung gibt, sondern Transformationen und Formveränderungen … das ist für mich nicht fatalistisch, das ist ein ganz großes Ja zum leben.« (Christoph Schlingensief)

Schlingensief in ein paar Sätze zu fassen, ihn auf einer Seite zu beschreiben, scheint mir ein Ding der Unmöglichkeit. Die Faszination seiner Arbeit und seiner Person lag darin, dass er immer emotional gehandelt hat, dabei aber stets glasklar war im Einsatz und Umgang mit der Medialität und den Kommunikationsmöglichkeiten unserer Zeit. Er spekulierte nicht, er widerlegte jede Erwartung, er legte sich an, er distanzierte sich nicht mit »Coolness« oder Skepsis. Er sprach von Intransparenz und meinte Authentizität. Seine Kunst kreierte damit immer mehr Schnittstellen nach außen, was zwangsläufig die Menschen zur Interaktion einlud.

Die Kunst, die bereits seit dem Beginn des letzten Jahrhunderts mehr und mehr an ihren eigenen Grenzen und an der Auflösung der einzelnen Disziplinen arbeitet, wurde bei Schlingensief zum Instrument, das nicht mehr gedeutet werden musste, sondern sich selbst widerlegen konnte. Schlingensief löste damit einen Wendepunkt aus, an dem sich Kunst neu definieren wird müssen.

Sein Wiener Container-Projekt Ausländer raus! legte Zeugnis ab von dieser Neudefinition von Kunst, wo Kunst im klassischen Sinn sich nicht mehr wiederfand, weil sie sich plötzlich unter anderem mit Formen von Realityshows konfrontiert sah. Schlingensief gelang damit im Kunstkontext eine aggressive Einmischung in politische Themen, indem er durch Form, Stil und Inhalt antithetisch vorging: »[Jörg] Haider zu widerlegen geht nicht. Haider durchspielen geht.« So waren denn auch die Beteiligten seiner Aufführungen nicht immer Schauspieler, sondern auch Betroffene: Ausländer, Ex-Neonazis, Behinderte und so weiter. Er spielte also durch, wie im Labor, was es bedeutet, jemanden zu stigmatisieren und ihn am Ende des Tages des Landes zu verweisen. Ähnlich war sein Projekt der Parteigründung Chance 2000 zu verstehen oder die Church of Fear.

Kunst wurde zum Testlabor. Und zum Theater sagte er konsequenterweise: Das ist Politik.

Schlingensief verwahrte sich dagegen, Kunst unabhängig vom Leben zu sehen. Die Trennung Kunst − Leben gab es bei ihm nicht. In der Aufhebung der Grenzen zwischen den Kunst-Disziplinen und der Lebensgestaltung und in seiner begnadet-unverschämten Handhabung aller Mittel, die ihm die moderne Medienwelt zur Verfügung stellte, wurde Kunst bei ihm zum Instrument, wenn nicht zur Waffe. Sie ermöglichte ihm, konkret Stellung zu beziehen und sich einzumischen, auf tagesaktuelle Themen einzugehen: also gestalterisch in den gesellschaftlichen Kontext hineinzuwirken, wie das zuletzt dann auch in dem Projekt »Operndorf Remdoogo« seine konkreteste Ausformung fand.

Diesem Impetus lag ein Begriff von Freiheit zugrunde, den er einforderte und den er für sich beanspruchte. Deswegen erlaubte er sich auch Übergriffe, die scheinbar Regelverletzungen darstellten, inhaltlich wie stilistisch, und schuf durch sie hindurch nicht Wirklichkeit, wie Theater das oft von sich behauptet, sondern griff diese an und machte Kunst damit zur Wirklichkeit und umgekehrt.

Ich verstehe Schlingensief als einen, der um die Welt wusste, ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein hatte und im buchstäblichen Sinne immer auf Sendung war. Es schien, als ob eine Verpflichtung, eine Verantwortung ihn antrieb, die jeden in seinen Bann zog.

Schlingensiefs Werk hinterlässt tiefe Spuren.

Als Inszenierungen der Jetztzeit, zwar deutsch geprägt, aber in ihrem hochmoralischen Anliegen doch menschlich allgemeingültig, stellen seine Arbeiten eine neue Ikonografie auf, die Kunst mit dem Alltag engstens verknüpft.

Es entstanden dadurch neue Zugriffe, neue Blicke auf Realität, neue Deutungen von Kunst. Nichts blieb unberührt in seiner Arbeit: Da trifft der Katholizismus auf die Konsumwelt, da stoßen verschiedene Kulturen aufeinander, da trifft Moral auf Unmoral, da verkehren sich die Systeme, da schlägt er die Unterhaltungsindustrie mit ihren eigenen Mitteln und verdonnert das herkömmliche Stadttheater zur Unterhaltungsfabrik. Da werden alle Kunstmittel miteinander verwoben, benutzt. Der Film zum Beispiel, sein ursächlichstes künstlerisches Mittel, ein technisches Mittel, das der Bewegung verpflichtet ist, Schnitte zulässt, Einschnitte, Verdrehungen, falsche Perspektiven etc., bestimmte auch ästhetisch seine weiteren Arbeiten, sei es auf der Bühne, im Kunstraum, im öffentlichen Raum, im Buch.

Seine Kunst ist widersprüchlich, ideologielos, offen. Er scheute vor nichts zurück, holte sich, was er brauchte, von Goethe bis Immendorff, von Nietzsche bis Warhol, von Schönberg bis Jelinek, und würfelte es neu zusammen – erstaunliche Drehbücher, Texte, Aufführungen, Installationen sind dadurch entstanden. Er war ein kongenialer Plagiator, ein Kunst-DJ und -VJ zugleich, der sich dazu ganz öffentlich bekannte. Wahrheit in ihrer unglaublichen Komplexität erstand und man entkam dem berührenden Staunen nicht. Kunst, meinte er, »wird dann interessant, wenn wir vor etwas stehen, was wir nicht restlos erklären können«.

Christoph Schlingensiefs Gang nach Afrika war demnach nur folgerichtig. Dort konnte er etwas lostreten, etwas in Bewegung setzen, aber seine Grenzen waren klar für ihn erkennbar, allein schon die Sprache, die andere Kultur waren Barrieren des Verständnisses. Plötzlich war nur mehr Vertrauen möglich. Plötzlich war nur das schöne Staunen möglich. Er hat etwas geschaffen und dadurch Bewegung erzeugt. Und damit auf wunderbare Weise gezeigt, dass mit künstlerischem Denken und Handeln Berge zu versetzen sind und Erkenntnisse stattfinden, die dem eigenen wie dem anderen Ich eine Souveränität zutrauen, die sich wehrt, sich erheben kann, selbst sein kann. Am deutlichsten war das in seinem Stück Mea Culpa zu erkennen, wo er mit großer Heiterkeit dem Tod den Finger zeigt und sich selbst als Schöpfer seines Lebens deklariert.

Schlingensief bewirkte, dass an der eigenen Wahrnehmung gerüttelt und gezerrt wurde, bis man entnervt, entzückt, verrückt, staunend zurückblieb. Gemeinsam mit dem Künstler, der oft mittendrin als Moderator, Spiritus Rector, Schauspieler, Verführer eine scheinbar außer Kontrolle geratene Wirklichkeit ins Visier nahm.

Ein liebender Moralist, erkrankt am deutschen Wesen, dessen Vergangenheit und dessen ungewisser Zukunft (er sprach einmal vom fauligen Geruch in Deutschland), aber auch an der Unklarheit von Welt insgesamt, die er aber auch nicht missen konnte, nicht missen wollte – einfach liebte.

Er bekomme »Darmverschlingungen«, hat er mir einmal per SMS zugerufen. Jede Ungerechtigkeit, jeder Unverstand hat ihn persönlich getroffen, an seinem Körper gezehrt. Er war wie ein Seismograf, der alles aufnahm und sich nur dank seiner Kunst schützen konnte, ein begnadeter Chronist unserer Zeit, der mit den Mitteln der Kunst dem Leben großartige Freiheiten (zurück)gab.


Elisabeth Schweeger für Christoph Schlingensief. Vorab-Veröffentlichung aus der Publikation zum Deutschen Pavillon 2011 © Deutscher Pavillon 2011, Kiepenheuer & Witsch

Upload: 29.11.2011

Der Gesamtkünstler Christoph Schlingensief

“Der Gesamtkünstler Christoph Schlingensief” kürzlich im Praesens Verlag erschienen.
(ISBN 978-3-7069-0592-3)

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Upload: 05.10.2011

Schlingensiefs Operndorf in Afrika: Ein “Dorfgespräch” am Deutschen Pavillon

Dr. Katharina von Ruckteschell-Katte, Francis Kéré, Aino Laberenz, Chris Dercon, Simon Njami und Susanne Gaensheimer
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Dr. Katharina von Ruckteschell-Katte, Francis Kéré, Aino Laberenz, Chris Dercon, Simon Njami und Susanne Gaensheimer

Dorfgespräch im Deutschen Pavillon, 2. Juni 2011, Foto: (c) Roman Mensing, artdoc.de

Upload: 18.08.2011

Aktueller Link zur Schlingensief-Website

Schlingensief-Website

Upload: 16.08.2011

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Bühneninstallation des Fluxus-Oratoriums von Christoph Schlingensief im Deutschen Pavillon, Altaransicht mit Filmprojektion. Foto: (c) Roman Mensing, artdoc.de

Upload: 12.08.2011

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Bühneninstallation des Fluxus-Oratoriums von Christoph Schlingensief im Deutschen Pavillon, Altaransicht mit Filmprojektion. Foto: (c) Roman Mensing, artdoc.de

Upload: 10.08.2011

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Bühneninstallation des Fluxus-Oratoriums von Christoph Schlingensief im Deutschen Pavillon, Monstranz. Foto: (c) Roman Mensing, artdoc.de

Upload: 09.08.2011

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, Bühneninstallation des Fluxus-Oratoriums von Christoph Schlingensief im Deutschen Pavillon, Lichtkasten mit Röntgenbild, Foto: (c) Roman Mensing, artdoc.de

Upload: 02.08.2011

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Bühneninstallation des Fluxus-Oratoriums von Christoph Schlingensief im Deutschen Pavillon, Altarfrontplatte “Toleranzgürtel”, Sänfte und Krankenbett, Foto: (c) Roman Mensing, artdoc.de

Upload: 01.08.2011

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Bühneninstallation des Fluxus-Oratoriums von Christoph Schlingensief im Deutschen Pavillon, Altaransicht mit Filmprojektion, Foto: (c) Roman Mensing, artdoc.de

Upload: 06.06.2011

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir

Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Bühneninstallation des Fluxus-Oratoriums von Christoph
Schlingensief im Deutschen Pavillon, Altaransicht mit Filmprojektion
Foto: (c) Roman Mensing, artdoc.de

Upload: 03.06.2011

Terror 2000

Audio: Begräbnis

Audio MP3
Dietrich Kuhlbrodt, Christoph Schligensief
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Dietrich Kuhlbrodt, Christoph Schligensief

Terror 2000 (Intensivstation Deutschland), Deutschland, 1991/92, Regie: Christoph Schlingensief © Filmgalerie 451

Upload: 03.06.2011

100 Jahre Adolf Hitler

Audio: Bei Tisch

Audio MP3
Brigitte Kausch (Eva Braun)
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Brigitte Kausch (Eva Braun)

100 Jahre Adolf Hitler (Die letzte Stunde im Führerbunker), Deutschland, 1988/89, Regie: Christoph Schlingensief © Filmgalerie 451

Upload: 03.06.2011

United Trash

Audio: Peter Pannes Geburt

Audio MP3
Jones Muguse, Thomas Chibwe
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Jones Muguse, Thomas Chibwe

United Trash, Deutschland 1995/96, Regie: Christoph Schlingensief © Filmgalerie 451

Upload: 02.06.2011

Kirche der Angst, Deutscher Pavillon

Christoph Schlingensief, “Kirche der Angst”, Deutscher Pavillon, Biennale di Venezia 2011, Ansicht des Hauptraums

Upload: 02.06.2011

Egomania

Audio: “Epilog: DER WAHN DES EGOMANEN oder DER BEDINGUNGSLOSE GEHORSAM DER SEELE” (Ausschnitt)

Audio MP3
Tilda Swinton, Udo Kier
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Tilda Swinton, Udo Kier

Egomania – Insel ohne Hoffnung (Das größte Liebesdrama aller Zeiten), Deutschland, 1986, Regie: Christoph Schlingensief © Filmgalerie 451

Upload: 02.06.2011

Menu Total

Audio: Titelmusik (Helge Schneider)

Audio MP3
Helge Schneider
Bild 1 von 7

Helge Schneider

Menu Total, Deutschland, 1985/86, Regie: Christoph Schlingensief © Filmgalerie 451

Upload: 02.06.2011

Das deutsche Kettensägenmassaker

Audio: Grenzkontrolle

Audio MP3
Artur Albrecht
Bild 1 von 9

Artur Albrecht

Das deutsche Kettensägenmassaker (Die erste Stunde der Wiedervereinigung), Deutschland, 1990, Regie: Christoph Schlingensief © Filmgalerie 451

Upload: 01.06.2011

Schlingensiefs Operndorf in Afrika: Ein „Dorfgespräch“ am Deutschen Pavillon

Christoph Schlingensief hat leidenschaftlich seine Idee eines Operndorfes in Burkina Faso verfolgt. Er stellte es sich als „soziale Plastik“ vor, als Ort der Begegnung und des Austauschs. Das Goethe-Institut hat Schlingensief bei diesem Projekt von Anfang an unterstützt und engagiert sich auch weiter für dessen Aufbau. Im März hat es die Reihe „Dorfgespräche“ in Ouagadougou begonnen: Workshops und Diskussionen sowohl in Afrika als auch Europa sollen die Verwirklichung des Operndorfs durch kreative Impulse unterstützen und den inner-afrikanischen Austausch fördern.  Am 2. Juni findet am Deutschen Pavillon nun das zweite Gespräch statt. Teilnehmen werden voraussichtlich Aino Laberenz, Susanne Gaensheimer, Francis Kéré, Chris Dercon und Simon Njami.

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Upload: 09.05.2011

Settebello

Bayrle

Helke Bayrle für Christoph Schlingensief

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Upload: 23.04.2011

Filmplakat “United Trash”

© Filmgalerie 451, Gestaltung: Assmann/Stock

Upload: 18.04.2011

Lieber Christoph


Sonntag, 22. August 2010, acht Uhr. Von der gestern eingetroffenen, letztlich dann doch überraschenden Todesnachricht benommen, schaue ich nach nur wenigen Stunden Schlaf in die Morgensonne, kleiner großer Skorpion-Bruder, und komme in meiner Trübsal nicht weiter. Wie gelähmt denke ich immer wieder, was uns Bazon Brock ins Stammbuch geschrieben hat: Der Tod, diese verdammte Scheiße, muss endlich aufhören. In wenigen Wochen sollte Dein 50. Geburtstag stattfinden, das Operndorf-Projekt in Afrika wollte weitergeführt werden und natürlich hattest Du gehofft, im kommenden Jahr höchstpersönlich in Venedig sein zu können, um dort den deutschen Biennale-Pavillon zu bespielen. Eine Ehre wäre es für Dich gewesen, die Nation zu vertreten und sie zugleich zu irritieren, zu fordern, zu provozieren. mehr…

Upload: 06.04.2011

Einsam

Melian


Text und Musik: Christoph Schlingensief

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Upload: 24.03.2011

Katzilein

Katzilein

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Upload: 03.03.2011

Mein Filz, mein Fett, mein Hase

Documenta

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Upload: 24.02.2011

Christoph Schlingensief und Gilbert & George

Christoph Schlingensief, Gilbert & George, Haus der Kunst, 24. Mai 2007, © Marion Vogel

Upload: 17.02.2011

Horrorhaus

Horrorhaus

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Upload: 14.02.2011

Eine Zufallsbekanntschaft

1984 hatte ich es leid, beim Schreiben über Filme den Markttermin zu bedienen. Kein Starttermin? Dann kein Text! Da kam es mir zupass, dass in Hamburg sich das Abaton-Kino die Reihe Unbekannte Filme von unbekannten jungen deutschen Regisseuren ausgedacht hatte. Ich ging hin, neugierig auf einen Film, irgendeinen, und ohne den Zwang, einen Text abliefern zu müssen. „Tunguska – Die Kisten sind da“ von einem Menschen, dessen Namen ohne anzustoßen auszusprechen, mir mit der Zeit gelingen sollte. Schlingensief. mehr…

Upload: 01.02.2011

Sofortiger Abriss Venedigs!


June 23, 2010
Ehrlich gesagt verstehe ich nicht was der chefarchitekt da sagt? Das kommt mir wie eine presseente vor. Nazis und kommunisten haben eines gemeinsam, sie muessen immer etwas vernichten, um sich selber platz zu verschaffen. Den palast der republik bauen sie dann auch wieder in ein paar jahren auf und das disney-schwachsinns-stadtschloss werden sie auch irgendwann bauen und irgendwann wird es eine verordnung geben, das wir bundesbuerger in historischen kostuemen herumlaufen muessen. Dem architektonischen schwachsinn in deutschland sind keine grenzen gesetzt. mehr…